Ein verlorener Sohn

Wie bei so vielen Geschichten ist der Anfang am schwersten. Mit überbreitem Lederrücken und im Folioformat trug der Urkundenband zu meinem Handgepäck gewichtige sechs Kilogramm bei, im engen und überfüllten ICE fast zuviel. Schon während meines Besuchs in Moers Ostern 1999 hatte ich alle Seiten durchblättert, viele der ab 1924 gesammelten, oft aber weitaus früher datierten, Begebnisse in Notizen, Zeitungsausschnitten, Abschriften und Photographien hatten für Spuren unterschiedlicher Ausprägung in meinem Gedächtnis gesorgt. Es waren aber die umfangreichen Auszüge zum Namen Mummenthey aus dem Kirchenbuch St. Johannis der Calenberger Neustadt Hannovers, die nun die Reise zurück nach Niedersachsen veranlassten.

Mehr als zwei Jahre danach, am 24. Dezember 2001 ging mir eine Email zu, die, als ich sie aus Krankheitsgründen, dann erst 14 Tage später unter der Webmaster-Adresse meiner Internetseite fand, eine Sensation andeutete. In der Webstatistik waren mir wohl Zugriffe aus Mexiko auf meine Website zu den Calenberger Mummentheys aufgefallen. Nun aber schrieb mir Josias Antonio Mumenthey aus Mexiko, daß er meine Internetseite gefunden habe auf der Suche nach der Herkunft seines Nachnamens!
Ja, ich las richtig: Mumenthey: te, ha, e, ypsilon. Nur das doppelte m war verschwunden. Die nordamerikanischen Mummenthey-Nachfahren hatten ihren Namen nicht so sorgsam erhalten. Mummentheys in Mexico, da hatte es noch nie einen Briefwechsel gegeben - aber da war doch...

Wie elektrisiert schickte ich sofort eine Email zurück mit den noch vagen Erinnerungsspuren an einen Mummenthey aus dem Harz, verschollen auf der Suche nach Bodenschätzen irgendwo in Südamerika. Ich hatte es ja irgendwann gelesen, mehr eigentlich überflogen in dem schwergewichtigen Folianten, und einem etwas schmaleren Band, der sich in der Zwischenzeit dazugesellt hatte.

Die eine Stunde später hinterhergeschickte Botschaft war dann genauer: August Wilhelm Mummenthey, Besuch der Clausthaler Bergschule 1822-24, hatte 1827 den Harz verlassen, um sich in Oaxaca, Mexico im Silberbergbau zu verdingen. Er wurde noch 1842 als Pate in dem Zellerfelder Kirchenbuch genannt, galt aber als verschollen.Oaxaca Hochtal
Nun wurde meine Geduld auf eine harte Probe gestellt. Endlich, nach Tagen, traf die Email aus Mexiko ein und berichtete über die zahlreiche Familie von Josias Großvaters, der selbst noch drei Brüder mit dem Vaternamen Mumenthey hat, - alle im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca!!

Schon bei der ersten Mail hatte ich K.-A. Mummenthey, (dem ebenfalls eine 'Gänsehaut über den Rücken lief'), Ururgroßenkel des Kunstmeisters und Berggeschworenen auf der Königshütte in Lauterberg, Karl Heinrich Mummenthey, dessen Bruder der Auswanderer nach Oaxaca war, von dieser Nachricht verständigt. Aus dem 'kollektiven' Gedächtnis der Familie Mummenthey heraus, dem Familienarchiv in Moers, das K.-A. Mummenthey von seinem Vater übernahm und noch weiter ausbaute, setzte sich Mosaiksteinchen um Mosaiksteinchen allmählich zu einem immer genaueren Bild der vergangenen Abläufe zusammen. Das Internet und die unermüdliche und nahezu unerschöpfliche Suchmaschine Google taten ein übriges.

Gefunden wurde die Abschrift eines Briefteils, dann die fotografische Wiedergabe dieses Briefes von 1827, den Karl Heinrich Mummenthey, ab 1820 Bauaufseher auf der Königshütte, nach der Abreise seines Bruders nach Oaxaca an beider Schwester Karoline richtete:


Liebe Schwester!

Vergangenen Montag morgens 7 Uhr fuhr Wilhelm von Clausthal ab, u. bat mich nochmals Euch in seinem Namen ein Lebewohl zu sagen, auch möchtet Ihr Euch seiner auch in jenem Welttheile wo er sein neues Vaterland suche, erinnern; als ich ihn verließ war er munter und wohl, Gott geleite ihn so bis ans Ziel....

Dein Bruder

KHMummenthey
Königshütte den 13. Decbr. 1827


Danach hat August Wilhelm Mummenthey am 10. Dezember 1827 Clausthal und seine Oberharzer Heimat verlassen und dürfte im Frühjahr 1828 sein fernes Ziel erreicht haben.

Die Suche im Internet zu Auswanderern aus dem Harz nach Mexiko, ihre Beweggründe und der Ablauf ihrer Reise, brachte nicht den gewünschten Erfolg, bis mir ein glücklicher Zufall Informationen zuspielte, deren Umfang und Genauigkeit alles erhoffte übertraf. In dem gewichtigen Folioband fand sich die Abschrift eines Briefes von Mühlenpfordt, ebenfalls Absolvent der Bergschule Clausthal, an seinen Kameraden Mummenthey:


Clausthal, den 28ten Nov. 1826
Anliegend übersende ich Ihnen, mein guter Mummenthey, Ihr Stammblatt. Es erinnere Sie in einsamen Stunden, dass Ihnen in weiter Ferne ein wahrer Freund lebt. Meine Silhouette ist noch nicht fertig, doch sollen sie dieselbige hier vorfinden, sowie einiges andere, was ich zum Andenken von mir anzunehmen bitte.-- - Möge der Himmel Sie bald zum glücklichsten Ziele führen, und Ihnen nach seiner Weisheit nur Freuden geben. Mögen Sie auch nie vergessen, dass ich stets mit treuer Freundesliebe Ihrer gedenken, mich oft und freudig Ihrer erinnern werde. Auch Sie werden, das hoffe ich, mir stets Freund bleiben. Nehmen Sie noch einmal den treuen Freundesgruss aus der Ferne und meine besten Wünsche für Ihr stetes Wohl, und mein herzl. Lebewohl.
Stets und überall Ihr treuer Mühlenpfordt.


Zunächst hatte ich angenommen, Mühlenpfordt habe in seiner poetischen, aber angenehm zu lesenden Diktion seinen Freund Mummenthey verabschiedet, - der wanderte aber erst 1827 aus, da paßte das Datum Nov. 1826 nicht. In der Mummentheyschen Festschrift von 1927 (Chronik der Familie Mummenthey Bd. 2) fand ich zum Stichwort Auswanderung: "1822 brannten 20, 1823 17 Häuser ab.... Die Jahre 1822/23 waren schlimme Notjahre für die Clausthaler, überhaupt für die ganze Oberharzer Bevölkerung. Durch siebenmonatliche Dürre fehlte es an dem notwendigen Betriebswasser für die Bergwerksmaschinen. Schacht und Hütte standen still. Trotz aller Vorsorge der maßgebenden Stellen herrschte Not unter den Berg- und Hüttenleuten. Die Folge davon war, daß in den folgenden Jahren besonders 1825/26 und 27 zahlreiche Familien auswanderten, die sich zum Teil in die Silberbergwerke nach Brasilien, Mexiko und Bolivien wandten, damit nahm auch die Einwohnerzahl langsam aber stetig ab."


Nun gab ich den Namen Mühlenpfordt kurzerhand in Google ein und wurde fast erschlagen durch die Zahl der der literarischen, achitektonischen, botanischen Bezüge, - alle verknüpft mit Eduard Mühlenpfordt und Mexico! Das erst 2000 erschienene Mejicanische Bilder, Reiseabenteuer, Gegenden, Menschen und Sitten geschildert von Eduard Mühlenpfordt, bestellte ich sofort und wurde nicht enttäuscht. Schon die erste Zeile der Kurzbeschreibung auf dem Buchdeckel ließ mich innerlich jubilieren: "Im Dienst einer englischen Bergwerksgesellschaft reiste Eduard Mühlenpfordt 1827 mit seiner Frau und einer Gruppe Harzer Bergleute nach Mexiko. Für die Bergwerksgesellschaft arbeitete er mehrere Jahre, bis er in den Dienst der Wegebaukommission des Bundesstaates Oaxaca wechselte....". Das Kapitel Reise von Clausthal nach Veracruz habe ich fast verschlungen: "Es war am 20ten December 1826 als ich den Armen meiner Eltern, Geschwister und Freunde mich entriß, um die Reise nach Mejiko anzutreten, wohin ich im Dienste der Englischen Bergbaugesellschaft Mexican Compang als Chef des Bauwesens mich begeben sollte und wollte. Meine Frau, mir soeben erst angetraut, begleitete mich in die neue Welt. Über Hildesheim, Hannover, Celle und Harburg gingen wir zuerst nach Hamburg, wo die sämmtlichen für den Dienst der genannten Gesellschaft engagirten Beamten und Arbeiter sich versammeln sollten, um sich auf dem Schiffe Mary, Captain Quiller, von Liverpool, zur Fahrt nach Veracruz einzuschiffen." Mejicanische Bilder a.a.O. S. 26
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, es ist Eduard Mühlenpfordt, der sich in dem zitierten Brief vom 28. November 1826 von August Wilhelm Mummenthey verabschiedete, um eine Reise anzutreten und zu beschreiben, die sein Freund Mummenthey ein Jahr später mit dem gleichen Ziel am 10. Dezember 1827 begann. Wenn auch der Bundesstaat Oaxaca an Fläche doppelt so groß wie Niedersachsen ist, so werden sie einander bestimmt begegnet sein.

Schriftliche Hinweise hierauf sind nicht bekannt und konnten bei Frau Dr. Corinna Raddatz vom Museum für Völkerkunde in Hamburg, die von Nachfahren der Familie Mühlenpfordt gesammelte Unterlagen einsehen konnte, nicht in Erfahrung gebracht werden. Es ist ihr Verdienst, das Mühlenpfordtsche Manuskript (Mejicanische Bilder), das sie unter Museumsmaterial des 19. Jahrhunderts entdeckte und das im Gegensatz zum Versuch einer getreuen Schilderung der Republik Mejico, zwei Bände, herausgegeben in Hannover 1844, auch persönliche Bezüge und Erfahrungen besonders von der Reise bis fast nach Oaxaca mitteilt, durch Veröffentlichung als Buch vor dem Vergessen bewahrt zu haben. Im Versuch einer getreuen Schilderung der Republik Mejico beschreibt Mühlenpfordt den Zustand der Silberbergwerke und der Silbergewinnung vor und nach der Mexikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1821 und den Einsatz englischen Kapitals und englischer Bergwerksgesellschaften, die durch die Revolutionswirren verfallenen und zerstörten Hütten, Amalgier- und Bergwerke wiederaufzurichten. Die von 1714 bis 1837 bestehende Personalunion zwischen Großbritannien und Hannover erklärt den Zugriff englischer Montangesellschaften auf die in Not geratenen Oberharzer Bergleute. Mühlenpfordt nennt den Minendistrikt von Ixtepeji in der Nähe der Hauptstadt Oaxaca, des gleichnamigen Bundesstaates, wo ihm, nahe dem etwa 30 km nordöstlich von Oaxaca gelegenen Ixtlán das Dorf Santa María Yavesía als Wohnort diente, in dieser für die Silbergewinnung genutzten Region der Cordillera Oriental.

Eines bleibt noch nachzutragen, ab November 1835 (C. Raddatz) ist Eduard Mühlenpfordt wieder in Clausthal. Sein Vater ist der Maschinendirektor bei der Berghauptmannschaft Clausthal, Barthold Mühlenpfordt, unter dessen Leitung Karl Heinrich Mummenthey, in den Jahren 1828 - 1832 die neue Hüttenanlage (Königshütte in Lauterberg) im "gotischen Stil" entworfen und die Bauausführung überwacht hat, Hillegeist a.a.O. S 11 und 19. Hier dürfte eine Gelegenheit gewesen sein, aus erster Hand etwas von dem ausgewanderten Bruder zu erfahren, aber hierzu schweigen sich die Quellen aus.

Doch können wir uns aus den beiden Schriften Mühlenpfordts mit ihrer umfangreichen, äußerst präzisen und lebendigen Schilderung von Land und Leuten der Jahre 1827 - 1835 das Mexico, wie es auch August Wilhelm Mummenthey erlebte, vor Augen führen und die nüchternen Daten, aus der Vergangenheit mit Leben füllen.

Inzwischen verknüpften viele Emails Cd. Ixtepec, nahe der Pazifikküste des Isthmus von Tehuantepec und Niltepec, 50 km östlich an der carretera panamericana, im Bundesstaat Oaxaca die Städte Hannover und Moers in Deutschland. Bilder, Geschichten und Familiendaten wurden ausgetauscht, in englischer Sprache, der lingua franca des Internet.
In der langen Kette von acht Generationen muß nur noch zu Martin Mumentey Lopez der Vater gefunden werden, der als Sohn von August Wilhelm Mummenthey geboren wurde. Josias schrieb mir von einem Heiratsdokument in den Registern der Kirche von Niltepec, in dem der Name Mummenthey vorkommt!! Das wäre die Entdeckung!

Meine Reise nach Mexico zu den Orten Ciudad Oaxaca, Ixtlán de Juárez , Santa Maria Yavesia, Ixtepec und Niltepec (an dieser Stelle bald der Link zu einem Reisebericht) hat eine Reihe von Fragen geklärt, aber auch neue aufgeworfen. Hätte ich genau gewußt, was im Kirchenbuch von Niltepec steht, so hätte ich die Suche in Oaxaca noch mehr auf die dortigen Kirchenbücher konzentriert. Der Eintrag der Heirat von Agustin Mometey Ojeda aus Niltepec mit Juana López Fuentes aus Espinal am 14. Nov. 1851 im Register von Santiago Apóstol in Niltepec ist mehr als eine Entdeckung. Das dunkle Schicksal des Auswanderers August Wilhelm Mummenthey, seit 1842 (Eintragung als Pate: August Wilhelm Mummenthey in Mexico) verschollen, gilt vielleicht auch für seine Frau Clara Joaquina Martel beide in der Stadt Oaxaca eingebürgert und weitere Kinder.

Nach dem kollektiven Gedächtnis des Pueblo Niltepec kamen der erste Mumenthey - Agustin Mometey (Martel?) - und neun oder dreizehn Waisenkinder mit dem neuen Priester Fray Francisco L. Ojeda im Februar 1843 nach Santiago Niltepec.